Vorlesung 7
Paradoxa der Überlieferungen
Aus den Arbeiten von Ludwig Richter und der Zeit der Romantik
Wir wollen die heutige Vorlesung mit einer einfachen Frage beginnen.
Wenn viele Religionen sich auf Überlieferungen von Worten Gottes berufen und diese Worte Gottes in jeder Religion anders als die der anderen Religionen sind, welche Religion besitzt denn dann die einzig wahren Worte Gottes?
Die Antwort wird ein wenig überraschen.
Die einzige wahre Religion, welche die wahren Worte Gottes besitzt, ist deine eigene Religion.
Doch damit müssen sich in der logischen Konsequenz alle anderen Religionen auf die falschen Worte Gottes gründen und damit falsche Religionen sein.
Soweit, so klar.
Und doch denken die Menschen anderer Religionen genauso darüber, und das ist immer die Mehrheit.
Somit mündet die Frage nach der „richtigen“ Religion immer weiter in ein Paradoxon.
Und doch muss es eine Antwort geben, welche dieses Paradoxon lösen könnte.
Um die Spannung nicht unnötig hoch zu halten, wollen wir dieser Vorlesung die Antwort an den Anfang stellen.
Diese Antwort ist erstaunlich:
Es ist durchaus wahrscheinlich, dass alle Religionen das wahre Wort Gottes (mehr oder weniger) besitzen.
Diese Erkenntnis werden wir im Folgenden mit Logik und Verstand diskutieren und damit die Grundlage einer möglichen künftigen friedlichen Koexistenz der Religionen gemeinsam erarbeiten.
Zu Beginn wollen wir uns folgende Situation vorstellen:
Wir sind Lebewesen in einer zweidimensionalen Welt, leben auf der Oberfläche eines Luftballons und wandern unser Leben über diese Oberfläche. Für uns zweidimensionalen Lebewesen gibt es nur die beiden Richtungen in der Ebene, vorwärts oder rückwärts und seitlich links oder rechts.
Wir kommen gut in dieser Welt zurecht.
Wenn wir aber das Wesen beschreiben, das diese Luftballonwelt erschaffen hat, so können wir annehmen, dass dieses Wesen Teil einer höherdimensionalen Welt ist, denn schließlich muss dieses höhere Wesen unsere gesamte Oberfläche umfassen können.
Dieses höhere Wesen möchte nun in unsere zweidimensionale Welt auf irgendeine Weise einwirken, beispielsweise drückt es mit seiner Hand (wir unterstellen dem Wesen, dass es so ist wie wir dreidimensionalen Menschen), in die Oberfläche unserer zweidimensionalen Welt.
Wie würden wir dieses Wirken Gottes als zweidimensionale Wesen wahrnehmen?
Nichts – wir würden diese Handlung nicht erkennen können.
Wir würden aber etwas anderes, wundersames bemerken: An der Stelle, an welcher Gott seine Hand in die Oberfläche des zweidimensionalen Luftballons, auf welchem wir existieren, gedrückt hat, ist die Oberfläche (in der dritten Dimension) so verändert, dass Höhen und Vertiefungen (in der dritten Dimension) entstanden sind.
Diese Höhen und Tiefen aber können die zweidimensionalen Wesen nicht sehen.
Wir nehmen an dieser Stelle aber etwas anderes, wundersames wahr. Denn wenn wir uns in diesem Bereich bewegen, werden wir spüren, dass es einen Bereich gibt, an welchen die Bewegung leichter möglich ist (wenn wir gerade auf dem Weg von einer höherdimensionalen Höhe zu einem Tal sind), und dass es Bereiche gibt, auf welchen unsere Fortbewegung schwerer wird (wir sind gerade auf dem Weg zu einer Höhe, dem Rand der Hand Gottes).
Diese Merkwürdigkeit kann keines der zweidimensionalen Lebewesen erklären. Egal, wie diese Merkwürdigkeit interpretiert wird, niemand kann den anderen Lebewesen beschreiben, dass die Hand eines dreidimensionalen Gottes in die Oberfläche ihrer zweidimensionalen Welt gedrückt hat und daher Bereiche entstehen, in welchen sich schneller fortbewegt werden kann, und Bereiche, in welchen die Fortbewegung schwerer wird.
Wenn überhaupt jemand in der Lage ist, dies mit seinem Wissen zu erfassen, der wird dann vielleicht den Menschen sagen, dass „von oben“ eine Hand Gottes in ihre Welt eingewirkt hat. Verstehen wird das niemand. Genauso wenig wie wir dreidimensionale Menschen es verstehen, wenn Propheten uns erzählen, dass Gott OBEN, im Himmel ist. Auch wir würden bei dem Begriff Himmel nach oben sehen und uns vorstellen, dass irgendwo da oben Gott existiert. Bei den zweidimensionalen Wesen aber gibt es kein OBEN, die Menschen würden sich dieses „oben“ immer als „vorne“ vorstellen können. Und so wäre dann für uns dreidimensionalen Menschen der Begriff „oben“ nicht oben, sondern in Richtung einer vierdimensionalen Richtung. Dies können wir dreidimensionale Wesen uns nicht vorstellen.
Wir sehen an einem solchen einfachen Beispiel, dass, wenn Gott ein Wesen einer höheren Dimension ist, wir nicht in der Lage sind, Gott in seiner Wirkung zu erkennen. Wir könnten nur mit unserem, auf die drei Dimensionen beschränkten Verstand Wirkungen Gottes versuchen zu interpretieren.
Doch gehen wir noch einen Schritt weiter – betrachten wir die Frage der Interpretation von Wirkungen (Überlieferungen, Worte, Gesten, Handlungen etc. Gottes) in der Gesamtsicht.
Es ist offensichtlich, dass ein Wesen Gott nicht nur körperlich (siehe voriges Beispiel), sondern auch mental (Wissensstand), uns Menschen überlegen sein muss.
Ein Beispiel: Gott würde einem besonders begabten Menschen ein Wort übermitteln, nennen wir es Brbatkrk.
Ein Prophet, so sensibel er für Worte Gottes auch wäre, er könnte damit nichts anfangen. Es fehlt ihm das Bild zu dem Wort. Sehen wir uns dazu beispielsweise das Wort „Haus“ an. Wir hören das Wort, verbinden es aber gleichzeitig mit einer visuellen Erinnerung und daher können wir dem Wort Haus etwas zuordnen, es verstehen. Brbatkrk aber können wir nichts zuordnen, es fehlt die Verknüpfung unserer Vorstellung mit den Lautfolgen. Selbst wenn Gott uns das Bild eines Atomkernes zu der Zeit der Entstehung der Religion übermitteln würde und wir wüssten nichts über Atome und Kerne, dann würden wir bestenfalls versuchen, dieses Bild mit unseren Worten zu beschreiben. Aber dies würde immer unverständlich bleiben. Unverständlich für den Propheten und noch unverständlicher für die Menschen, die die Worte des Propheten hören.
Wir sehen also, dass EINE Wirkung Gottes (Hand drückt auf die Oberfläche der zweidimensionalen Welt) unterschiedliche Interpretationen hervorrufen kann. Die wahre, dreidimensionale Ursache aber wäre für die zweidimensionalen Lebewesen weder erkennbar und auch nicht beschreibbar. Dieses Unvermögen der vollständigen Erfassung des Wortes Gottes wird also immer zu unterschiedlichen Interpretationen führen müssen, je nach Kenntnisstand des Weissagenden, je nach Kenntnisstand der Zuhörer.
Hierin könnte die Merkwürdigkeit liegen, dass nahezu alle Überlieferungen der Worte Gottes in den Bereichen (Welt nach dem Sterben, Sinn des Lebens, etc.) nur vage und unterschiedlich beschrieben werden, während „gewöhnliche“ und allgemein verständliche „Überlieferungen“, welche zum Beispiel Handlungen des Lebens der damaligen Gesellschaft beschreiben, äußerst präzise sind. Über Atome, Dimensionen, künftige Gefahren etc. erfahren wir somit nahezu Nichts.
Zusammengefasst können wir die Erkenntnis aus dieser Vorlesung mit einer Metapher zusammenfassen:
Das Wissen Gottes wäre ein riesiger, unendlicher Ozean. Das Wissen der Menschen könnte im Gegensatz dazu als das Volumen eines Fingerhutes beschrieben werden, welcher aus dem Ozean Gottes ein wenig Wissen oder Weisheit schöpfen möchte.
Jeder Mensch mit besonderen Fähigkeiten könnte also nur einen winzigen Teil von dem Wissen Gottes „abschöpfen“ und dieses Wissen dann an die anderen Menschen über seine eigene Interpretation weitergeben.
Und genau mit diesem Beispiel wird verständlich, warum ALLE Religionen eine eigene Institution benötigen, welche neuere Fragen und Erkenntnisse, für die es keine Überlieferung der Worte Gottes gibt, neu interpretieren müssen und versuchen, nicht erkannte Worte Gottes zu verstehen und weiterzugeben.
Diese unzähligen Auslegungen, vom Übermittler der Worte Gottes zu unterschiedlichen Fragen bis hin zu den Interpretationen von nicht beschriebenen Ursachen, darin finden wir eine (es gibt noch viele mehr) der Ursachen für die unterschiedlichen Wahrnehmungen unterschiedlicher Worte Gottes als Grundlage für die Entstehung unterschiedlicher Religionen.
Eine Erkenntnis, über die es sich lohnt, nachzudenken.
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[1] „Neue Theologie Physik Indizien Experimente“, Albert Déran